Nachdem ich laufen gelernt habe, habe ich angefangen, eigene Wege zu gehen. Allerdings nur begrenzt, denn meine Eltern waren irgendwie schneller als ich und hatten mich gleich wieder eingefangen. Ich musste also an meiner Geschwindigkeit arbeiten. Nebenbei habe ich dann festgestellt, dass meine ältere Schwester immer etwas langsamer und bedächtiger unterwegs war. Warum? Keine Ahnung. Aber ich wollte dieser Sache bei Gelegenheit auf den Grund gehen.
Irgendwann packten mich Mama und Papa zusammen mit meiner Schwester ins Auto. Juhu, wir machen einen Ausflug! Als wir irgendwann wieder ausgestiegen sind, standen wir vor einem großen Gebäude mit vielen Fenstern. Ganz viele Leute in weißer Kleidung gingen hinein und heraus, in der großen Eingangshalle waren Menschen mit so komischen Stühlen, die Fahrradreifen hatten. Komisch, dachte ich mir. Das ist aber kein toller Ort zum Toben. Wir mussten dann ganz lange warten, bis wir in ein Zimmer gerufen worden sind. Dort haben sich alle nur um meine Schwester gekümmert, mich beachtete kein Mensch. Also musste ich mir etwas einfallen lassen – und was macht man als 15 Monate altes Kind? Man fängt an zu quengeln und steigert sich notfalls zum Heulen oder Brüllen. Aber irgendwie hat das zu Hause besser funktioniert. Hier in diesem komischen Haus bemühte sich so eine Tante in Weiß darum, mich zu beruhigen, nicht meine Mama oder mein Papa. Die sprachen ja mit dem weißen Mann. Also musste ich noch etwas mehr Energie in meine Stimme legen und ich musste nun auch meinen ganzen Körper dazu einsetzen. Bingo. Meine Eltern haben es kapiert, dass ich auch noch da bin. Mein Papa sagte etwas wie „deine Schwester ist krank und hat Rheuma“. Warum hat die so etwas und ich nicht? Ist das etwas Tolles? Das muss ich auch haben, denn dann bin ich für die Eltern interessanter, dachte ich mir. Es war für mich furchtbar langweilig, wie meine Schwester so auf dieser Liege lag und an ihr herumgetatscht wurde. Aber das Rheumading habe ich nicht gesehen. Kommt vielleicht noch?
Wieder zu Hause war alles normal, dachte ich. War aber leider ein Trugschluss. Denn nun ging es erst richtig los. Es wurden viele Termine ausgemacht, wie Krankengymnastik – das ist so eine Art Sport für Rheuma-, Arzttermine, Termine zum Basteln (Ergotherapie) – auch für Rheuma. Aber dieses Rheuma habe ich immer noch nicht gesehen. Also abwarten, vielleicht kommt es ja bald.
Dann kam einmal ein Tag, an dem meine Schwester nicht mehr laufen konnte und auch so einen Stuhl bekam, der Reifen hatte. Oh, super, ich kann mit meiner Schwester auf einem Stuhl fahren! Komischerweise wollten meine Eltern das nicht.Als ich etwas älter war, erklärten meine Eltern mir, dass meine Schwester Rheuma hat. Das ist doch das Ding, was ich noch nie gesehen habe?! Mein Papa erklärte mir, dass es sich um eine Krankheit handelt. Aber nicht so etwas wie Fieber und Schnupfen – denn das geht ja irgendwann wieder weg. Aber diese Rheumakrankheit, die bleibt immer. Und sie macht meiner Schwester große Schmerzen in den Gelenken, daher musste sie in diesen Fahrradreifenstuhl – das ist ein Rollstuhl, hat mir Papa erklärt.
Wenn es meiner Schwester gut geht, dann kann sie fast alles machen, fast so wie ich. Wenn es ihr aber nicht gut geht, dann kann sie weniger Sachen machen. O. k., das ist für mich ja kein Problem. Das einzige Problem aber ist, dass meine Eltern sich mehr um meine Schwester kümmern, egal, ob es ihr gut geht oder nicht. Mit der Zeit lernte ich damit umzugehen, schob meine Schwester in der Schule im Rollstuhl umher, während sie meine Schultasche auf ihrem Schoss hatte. In der Schule lernte ich auch, dass meine Schwester manchmal recht hilflos war. Treppen konnte sie nicht laufen. Und viel schlimmer: Ganz viele Kinder ärgerten oder hänselten sie. Das ging überhaupt nicht! Ich musste ihr helfen. So fing ich an, immer für sie Partei zu er greifen und sie vor den anderen zu beschützen. Ich denke, dass das für sie gut gewesen ist.
Zu Hause innerhalb der Familie musste ich sie ja nicht beschützen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sich alles nur um meine Schwester dreht. Die Tagesabläufe, die Wochenplanung, selbst der Urlaub musste sich nach ihrem Rheuma richten, denn sie musste oft in die Kinderklinik. Jedes Jahr Urlaub in Bayern – das fand ich gemein. Ich wollte auch mal bestimmen, wo es hingeht!
Jetzt bin ich schon ein Teenager. Ich habe meine Schwester nie gesund erlebt, ich habe viel über ihre Erkrankung gelernt und viele andere Rheumakinder und deren Geschwister kennengelernt. Ich weiß nun, dass es den Rheumapatienten wirklich oft sehr schlecht geht. Ich weiß aber auch, dass man als gesundes Geschwisterkind oft das Gefühl hat, nur am Rand wahrgenommen zu werden. Mittlerweile habe ich festgestellt, dass meine Eltern immer versucht haben, für uns beide gleich viel Aufmerksamkeit und Zeit zu haben.
Trotz dieser blöden Rheumaerkrankung habe ich meine Schwester ganz arg lieb. Ich bewundere sie, wie sie mit dieser Erkrankung umgeht. Ich bedauere sie, dass sie so viele Krankenhausaufenthalte hatte und fürchterlich viele Medikamente nehmen muss. Aber wir haben trotz alldem eine tolle Zeit miteinander – auch mit den anderen Rheumakindern.
Eines ist ganz wichtig: Die an Rheuma erkrankten Kinder sind ganz starke Persönlichkeiten, die ohne viel Gejammer versuchen, ihren Weg selbstständig zu gehen. Ich bin stolz auf meine Schwester und ich liebe sie von ganzem Herzen – egal, wie es ihr auch geht!
Mareike Bopp ist 13 Jahre alt und wohnt in Riegel am Kaiserstuhl.