Lisa ist im Krankenhaus. Ihr schmerzen die Füße. Hier sind viele Kinder. Ein paar von ihnen hat sie schon kennen gelernt. Hannes tut das Knie weh und Sophia die Hände.
Eine Ärztin hat Lisa schon untersucht. Gestern war sie im Schwimmbad. Das war schön. Sie konnte schwimmen wie ein Fisch. Ihre Hände und Füße waren ihre Flossen, sie taten dabei nicht weh. Jetzt liegt sie im Bett und macht eine Pause. Nachher soll sie in die Kältekammer. Sie hat den Raum schon besichtigt. Dort ist es so kalt wie auf dem Nordpol. Die Kälte soll ihr helfen, wieder ohne Schmerzen laufen zu können.
Aber sie will nicht. Das hat sie auch schon der Krankenschwester gesagt. Ihr Bett ist kuschelig warm. Sie will nicht auf den eiskalten Nordpol! Und laufen will sie jetzt gerade auch nicht. Noch nicht einmal mit dem Roller fahren, jedenfalls nicht bis zur Kältekammer. Bei dem Gedanken wird ihr eiskalt und sie zieht sich ihre Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch. Wie sie da so liegt, schaut sie auf das Bild, das an der Wand hängt. Dort sitzt ein kleiner Eisbär auf einer Eisscholle inmitten von Eisbergen und dem tiefblauen Eismeer. Das muss der Nordpol sein, denkt Lisa.
Aber was war das? Hat der Eisbär sie gerade angeschaut? Bewegt er sich nicht auch? Und plötzlich passiert es: Er rutscht auf der glatten Eisscholle aus, fällt aus dem Bilderrahmen heraus und plumpst mit einem Platsch mitten in Lisas Zimmer. Überrascht schaut sie den kleinen Eisbären an, der klatschnass in einer Pfütze vor ihrem Bett steht. Auch der Eisbär schaut ganz erstaunt auf Lisa. Jetzt schüttelt er sich, spritzt alles nass und kommt vorsichtig auf Lisa zu, um sie zu beschnüffeln. Er stupst sie mit seiner zarten, kühlen Nase an und Lisa streichelt ihm über sein kaltes, weiches Fell.
Schwups, macht der Kleine einen Satz, springt zu Lisa ins Bett und kuschelt sich dicht an sie heran. Lisa nimmt ihn vorsichtig in ihre Arme. Sie spürt sein kleines Herz pochen. Kühl und weich ist er. Sanft streichelt sie ihn. Das gefällt ihm so gut, dass er ihre Hände abschleckt. Eine Weile liegen sie so da. Ganz warm wird beiden. Doch nun sieht der Eisbär ganz unglücklich aus. Ganz schlapp wirkt er und hechelt. „Oh weh, du schwitzt“, sagt Lisa zu ihm. Mit einem leisen, piepsigen Geräusch antwortet er und schaut sie traurig an.
Plötzlich weiß Lisa, was zu tun ist. Schnell zieht sie ihre Trainingshose, Pullover und Mütze an. Sie trägt den kleinen Eisbären zu ihrem Roller, der vor ihrer Zimmertür parkt, legt ihn auf das Trittbrett und fährt los, direkt zur Kältekammer. Dort angekommen wird der Kleine wieder munter. Er spürt wohl schon die gute, kalte Luft. Und schon steht er vor der Tür der Kältekammer und kratzt ungeduldig mit seinen Pfoten daran.
„Ich möchte in die Kältekammer“, hört Lisa sich sagen. „Ja, schön“, sagt die Frau, die die Tür auf- und zumachen darf. „Ja, schön“, sagt die Krankenschwester, die wohl hinter ihr her gekommen ist: „ich warte auf dich“. Lisa muss ihren Namen sagen, einen Mundschutz und Handschuhe anziehen. Wenn du früher heraus möchtest, wink mir zu, dann öffne ich die Tür“, sagt die Frau. Zwei größere Kinder wollen auch noch mit hineingehen. Sie sollen ein wenig auf Lisa achten.
Und dann geht die Tür auf. Stürmisch hüpft der Eisbär hinein. Lisa geht vorsichtig hinterher. Es ist kalt, sogar eiskalt. Sich bewegen tut gut bei der Kälte, merkt Lisa. Sie und die anderen Kinder hüpfen herum. Weißer, kalter Dampf ist überall. Einen Augenblick kann Lisa vor Kälte glitzernde Eisberge und Eisschollen sehen, so wie am echten Nordpol. Vor Vergnügen macht der kleine Eisbär richtig große Sprünge. Die Kälte fängt bei Lisa auf der Haut an zu prickeln.
Da geht die Tür auf. „Genug für heute“, sagt die Frau. Zum Glück kommt der Eisbär hinter Lisa hergelaufen. Die Frau sagt noch mit einem Lächeln: „Na ihr drei Eisbären, seid ihr zurück vom Nordpol?“ Lisa muss grinsen, denn sie waren ja zu viert.
Der Eisbär ist schon auf ihren Roller gesprungen und wartet auf die Abfahrt. Lisa fühlt sich ganz erfrischt und munter von der Kälte. Und tatsächlich, ihre Füße tun ihr nicht mehr weh. Die Krankenschwester freut sich, dass Lisa so mutig in die Kältekammer gegangen ist. Zufrieden steigt Lisa auf ihren Roller und fährt los. Sie ist viel schneller als die Schwester. Zum Glück geht sie in den Aufenthaltsraum.
In ihrem Zimmer angekommen, schleckt der kleine Eisbär ihr über die Hände. Sehnsüchtig schaut er zum leeren Bild an der Wand hoch. Lisa seufzt. Sie hat ihn verstanden. Sie läuft zum Stuhl, schiebt ihn an die Wand unter das leere Bild, hebt den kleinen Eisbären vorsichtig darauf und drückt ihn ganz fest in ihre Arme. Sie möchte ihn gar nicht mehr loslassen. Der kleine Eisbär reibt sein Köpfchen an ihrem und stupst sie mit seinem kühlen Näschen an. Langsam lässt Lisa ihn los. Er schaut auf das Bild, und mit einem kräftigen Sprung landet er sicher mitten im Bild auf der Eisscholle. Dort setzt er sich gemütlich hin und zwinkert Lisa zu. Lisa lächelt ihn an.
Dann macht sie sich daran die Wasserpfütze mitten im Zimmer aufzuwischen. Als sie den Stuhl an den Tisch zurück stellt, kommt die Schwester ins Zimmer. Ihr Blick fällt auf das Stuhlpolster. „Komisch“, sagt sie: „da sind ja Abdrücke von Bärentatzen auf dem Stuhlkissen. Das kann aber doch nicht sein!“ „Das war ein Eisbär“, sagt Lisa. „Ja, ja ein Eisbär“, sagt die Schwester und lächelt: „Kommst du mit zu den anderen Kindern? Wir wollen etwas spielen“. „Ja“, sagt Lisa und zwinkert dem kleinen Eisbären noch einmal zu.
Autorin: Andrea Hirche (ehemalige Erzieherin)
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