Die Spritze gehört nicht zu den angenehmen Dingen des Lebens. Ist die Prozedur wegen einer rheumatischen Erkrankung notwendig, brauchen Kinder und Jugendliche Zuwendung und Stärkung. Beginnt der Gedanke an die nächste Spritze den Familienalltag zu beherrschen, gibt es psychologische Hilfen.
Die siebenjährige Jessica hat Bauchschmerzen und Übelkeit, ihre Mama ist in Alarmbereitschaft: So war es im vergangenen Monat und davor auch. Immer, wenn sich der Tag ankündigte, an dem Jessicas Papa die Monatsdosis Methotrexat (MTX) „setzen musste“. Jessica weiß von ihren Eltern, dass sie die Spritze braucht, weil sie Rheuma hat. Aber ihr wird immer übel von der Spritze und sie hat Angst davor, dass die Bauchschmerzen und vor allem die Übelkeit noch stärker werden oder sie sogar erbrechen muss, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Schon zweimal musste die notwendige Spritzenprozedur verschoben werden, weil die Situation eskalierte.
Von solchen oder ähnlichen Szenen berichten Familien mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen, die Melanie Gräßer in ihrer Praxis in Leverkusen oder Lippstadt aufsuchen. Die Psychologin hat sich auf die Behandlung von Angst, besonders bei chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, spezialisiert. Ihre jungen Patienten sind anders als gesunde häufiger medizinischen Eingriffen wie Blutabnahmen, Spritzen oder Operationen ausgesetzt. Dabei kann Angst entstehen, die sich in dunklen Gedanken, Gefühlen und/oder körperlichen Symptomen wie Übelkeit, Bauch-, Kopf- oder Gelenkschmerzen äußert. Mitunter eskaliert diese Angst und steht gar nicht mehr nur mit dem Ereignis selbst in Verbindung. Sie weitet sich aus, am Ende entsteht manchmal eine Angst vor der Angst, die den (Lern-)Alltag der betroffenen Kinder massiv einschränken kann.
Junge Patienten müssen deshalb in ihren Ängsten ernst genommen werden, ihre Eltern können und sollten von Anfang an ermutigen und altersgerecht befähigen, diese auch auszudrücken. Ja, Spritzen können wehtun und sie können, wie bei MTX, Übelkeit auslösen. Darüber hinwegzutäuschen mit einem „Es wird schon nicht so schlimm!“ untergräbt die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die alle Kinder und Jugendlichen haben, um mit ihrer Angst besser umgehen zu können.
Angst kann dann übergroß und unbeherrschbar werden, wenn bedrohlich empfundene Erlebnisse starke Emotionen auslösen, die sich quasi verselbstständigen. Diese starken Emotionen verhindern nämlich, dass das Ereignis als beendet in unserem Gedächtnis abgespeichert werden kann. Als unsortierte Sinnes-Bruchstücke können sie durch Gerüche, Geräusche, Worte und Bilder in erstaunlicher Unvermitteltheit immer wieder wachgerufen werden: zum Beispiel als das Gefühl „Angst“ oder die Körperempfindung „Übelkeit“ oder der Gedanke „Ich schaff das nicht!“, „Ich bin hilflos!“, „Ich habe keine Kontrolle“. Natürlich besonders in Situationen, die daran erinnern, wie die berühmt-berüchtigte Spritzensituation.
Strategien gegen die Angst
Eltern wenden intuitiv und aus ihrer eigenen Erfahrung heraus viele individuell passende Strategien an, um auf die Angst ihrer Kinder zu reagieren, wenn sie beispielsweise Trost und Zuwendung auf dem Schoß geben oder mit dem Lieblingskuscheltier ablenken.
Jüngere Kinder brauchen natürlich eine andere Zusprache als ältere. Besonders Jugendliche profitieren davon, wenn sie mit jemandem über ihre Angst sprechen und die Zusammenhänge besser durchschauen können. Aber selbst den Kleineren kann man schon erklären: Dein Gehirn hat sich etwas gemerkt, was sich immer wieder abspielt, aber nicht gut für dich ist. Auch im Austausch mit Eltern in der Rheuma-Liga kann man hilfreiche Tipps und Tricks erfahren, um Angstsituationen zu entspannen. Erleben Kinder und Jugendliche, dass ihre Angst wieder verschwindet, dann kann sich diese Erfahrung auch im Gehirn verkoppeln und als positive Erfahrung genutzt werden. „Ein Verschieben der Spritzensituation zum Beispiel“, so Gräßer, „kann die Lage für den Moment entspannen, langfristig verstärkt es jedoch die Angst.“
Wird den Kindern jedoch im wahrsten Sinne des Wortes bereits schlecht von „schlechten Gedanken“ – und das bereits Tage vor der nächsten Spritze –, ist ihre Angst zu stark und/oder bestimmt sie den Tagesablauf einer Familie, sodass das Ganze zum Teufelskreis mutiert, kann auch psychotherapeutische Hilfe unterstützen. Die Verhaltenstherapie bietet ein Spektrum an Techniken an, mit denen neue Verhaltensweisen in den angstbesetzten Situationen mit therapeutischer Begleitung erprobt und geübt werden können. So gibt es unter anderem das Angstbewältigungstraining und die Desensibilisierungstherapie.
Melanie Gräßers Erfahrung ist, dass mit diesen Verfahren bereits erhebliche Verbesserungen erreicht werden können. Reste des Angst auslösenden Ereignisses können jedoch besonders dann, wenn Kinder und Jugendliche immer wieder der Triggersituation (Spritze) ausgesetzt werden müssen, eindeutiger mit einer noch recht jungen Methode getilgt werden, die aus der Traumatherapie kommt: Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR). EMDR kommt aus den USA und wurde ursprünglich in der Therapie posttraumatischer Störungen eingesetzt. Die Methode ist so erfolgreich, dass sie bereits nach relativ kurzer Zeit ihrer Einführung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss auch in Deutschland dafür zugelassen wurde.
Therapie mit den Fingern
EMDR vereinigt verschiedene psychologische und psychotherapeutische Ansätze, darunter tiefenpsychologische, kognitivverhaltenstherapeutische und körpertherapeutische Ansätze.
Der eigentliche Kern der Behandlung ist das sogenannte Prozessieren, eine Stimulation der linken und rechten Gehirnhälfte, so wie wir sie alle in unseren Traumphasen nachts unbewusst anwenden, um Belastendes vom Tage zu bearbeiten und „aufzuräumen“. EMDR wendet diese natürliche Fähigkeit des Menschen bewusst und planmäßig an. Am häufigsten erfolgt die Stimulation durch Fingerbewegungen des Therapeuten, denen der Patient mit den Augen folgt. Vorgeschaltet sind dem Prozessieren standardisierte Erhebungen von persönlichen Ressourcen und von Angst auslösenden Ereignissen nach einer bestimmten Hierarchie. Alles wird akribisch protokolliert.
Mit Jessica begibt sich Melanie Gräßer zunächst auf die Fantasiereise an einen sicheren Ort oder dahin, wo sie sich wohlfühlt und lässt sich von ihr beschreiben, was ihr im Alltag guttut und womit sie sich selbst motiviert, wenn es „mal nicht so läuft“. Sie lässt Jessica an eine Situation denken, in der sie schon einmal Mut bewiesen hat, zum Beispiel beim Sprung vom Dreimeterbrett. Mit der detailliert beschriebenen Erinnerung kommt auch die positive Körperempfindung, die für Jessica mit diesem Ereignis verbunden ist.
Stärkung: „Ich schaff das!“
In einem zweiten Schritt der Behandlung nimmt sie die helfenden Erinnerungen mit in die Zukunft. Sie stellt sich die „schlimme Situation“ vor und bespricht mit Melanie Gräßer, was sie braucht, um besser mit der Situation zurechtzukommen. Ihr fällt der Mut wieder ein, aber auch andere hilfreichen Fähigkeiten und Erfahrungen. Dann fragt Melanie Gräßer in einem dritten Schritt, wie schlimm es wäre, wenn Jessica die Spritze in diesem Moment bekäme. Auch was sie jetzt über die Situation und über sich denkt, soll sie erzählen. Die Psychologin weiß: „Negative unbewusste Selbstüberzeugungen, wie ,Ich bin blöd, dass ich jetzt schon wieder Angst habe’ behindern uns häufig in unserem Vorwärtskommen.“
Gemeinsam überlegen sie, was Jessica lieber denken würde. Jetzt kommt der Vorschlag der Therapeutin, sich das „schlimme Ereignis“ mit der gewünschten Überzeugung anzuschauen und zu prüfen, ob es so für Jessica stimmig ist. Passt es nicht, dann erfragt sie, woran Jessica das merke. Manche Kinder sprechen in dem Falle von Körperreaktionen wie Übelkeit oder Magen drücken.
Dann beginnt die Psychologin mit den Fingerbewegungen vor den Augen Jessicas. Bei kleineren Kindern erhöht man die Aufmerksamkeit mit interessanten Figuren auf Bleistiften oder mit Kuscheltieren. Kann ein Kind den Fingern nicht gut folgen, legt es seine Hände auf die eigenen Knie und der Therapeut tippt mit seinen Fingern im Wechsel auf die linke und rechte Seite. Stimulieren kann man auch über vibrierende Elektroden, die das Kind in seinen Händen hält. Es spürt abwechselnd ein Brummen in der linken und rechten Innenfläche. Möglich wäre ebenso der Einsatz wechselnder akustischer Reize über einen Kopfhörer. Auch Kinder, die sich nach extrem vielen Operationen nicht gerne berühren lassen, können so von der Methode profitieren.
Die Geschwindigkeit der Reize ist nicht zufällig gewählt. Möchte man positive Fähigkeiten, Gefühle und Gedanken verankern, werden langsame Impulse/Bewegungen gesetzt, beim Bearbeiten negativer Erfahrungen schnellere. „EMDR sollte jedoch ohne Erfahrung eines in der EMDRMethode ausgebildeten und zertifizierten Therapeuten überhaupt nicht angewandt werden“, sagt die Psychologin. Außerdem müsse es wie alle anderen psychotherapeutischen Verfahren immer in eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung eingebettet sein.
Mit Geschichten durch die Angst
Im EMDR-Einsatz bei ganz jungen Kindern entwickelt man gemeinsam mit den Eltern eine Erzählgeschichte mit schönem Anfang, mit guten und schlechten Erfahrungen auf dem weiteren Weg des Helden hin zu einem guten Ausgang, je nach Alter auch als Tiergeschichte oder Märchen. Das Kind sitzt dabei zum Beispiel auf dem Schoß der Mutter und legt seine Hände in die Hände der Mutter. Beide schaffen so gemeinsam etwas, was am Ende gut wird, auch wenn zwischendurch die Angst kommen kann. Ohne Anstrengung hilft EMDR beim „Aufräumen und Einsortieren“ dieser Emotionen. Wenn es sie von links nach rechts und rechts nach links schickt, dann an den Ort unseres Gehirns, wo man weiß: Die Angst hat einen Anfang und ein Ende. Wie das Setzen einer Spritze.
Diese Spritze würde kaum nutzen, wenn zu viel Angst da ist. Kinder und Eltern gewinnen so mehrfach mehr Lebensqualität.
Mit Melanie Gräßer, Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Leverkusen, sprach Ines Nowack, ehemalige Chefredakteurin mobil